Softwareentwicklung und Bauprojekt – nicht vergleichbar?
In der Softwareentwicklung ist es nicht mehr wegzudenken: Agiles Projektmanagement. Für die Baubranche ist es absolut unnötig: Bauherren definieren ihre Anforderungen an das Gebäude immer vollständig in der vorgeschalteten „Leistungsphase 0“. Die folgenden 9 Leistungsphasen werden von den Planern und ausführenden Firmen fristgerecht und in definierter Qualität bearbeitet. Eine Leistungsphase wird immer vollständig abgeschlossen, bevor die nächste beginnt. Die HOAI definiert den perfekten Entwicklungsprozess für Gebäude: Termine, Kosten und Qualität passen, alle sind glücklich…
„Wozu brauchen wir ein anderes, agiles Projektmanagement?“ fragt sich der geneigte Leser. Wir entwickeln ja keine Software.
Das Problem: HOAI + VDI 6026 = Wasserfall-Modell der TGA-Fachplanung
Es ist doch alles Sonnenklar! Die HOAI definiert in Anlage 15 die Grundleistungen der Technischen Ausrüstung, die VDI 6026 definiert die Dokumente, die der TGA-Fachplaner liefern muss. Bringen wir alle Leistungsphasen und Anlagengruppen der TGA zusammen ergibt sich ein wunderschönes Wasserfall-Modell:

Komplexe TGA-Großprojekte funktionieren nicht im Wasserfall-Modell
Das Ergebnis ist insbesondere bei komplexen Großprojekten leider selten ein glücklicher Bauherr, wie unten rechts dargestellt. Schon in Leistungsphase 1 hat er/sie nicht alle Grundlagen und Fachplaner parat, die der TGA-Fachplaner für einen perfekten Vorentwurf braucht. Schließlich ist der Küchenplaner, Freianlagenplaner, Schallschutzplaner als auch der Brandschutzplaner meist weder angefragt noch beauftragt.
Perfekter TGA-Vorentwurf existiert nicht
Weiterhin ist der perfekte Vorentwurf in der Realität gar nicht möglich: es müssten alle kosten- und qualitätsrelevante Entscheidungen über alle Details aller Anlagen getroffen werden. So weit ist die Planung aber noch gar nicht. Stattdessen werden Entscheidungen unter Unsicherheit oder gar keine Entscheidungen getroffen. Mit dieser Ausgangslage geht der TGA-Fachplaner in den Entwurf und muss jetzt schleunigst alle technischen Anlagen auslegen, damit der Architekt diese in das Gebäudemodell integrieren kann.
Das ist aufgrund fehlender Entscheidungen und dem nun aufkommenden Zeitdruck nicht möglich. Schließlich sollen neben dem perfekten Gebäudemodell noch Kosten berechnet und die ganze Anlagentechnik erläutert werden.
Auf Basis der im Vorentwurf nicht getroffenen Entscheidungen und aus Zeitdruck im stillen Kämmerlein getroffenen Annahmen wird das Gebäudemodell in die Ausführungsplanung überführt. Die Baugenehmigung liegt übrigens auch noch nicht vor…
Die erste Konsequenz: Der Wasserfall wird zum Rafting-Erlebnis
Oft gesehen und erlebt – spätestens in der Ausführungsplanung rächt sich das unfertige, aber bereits hochkomplexe Gebäudemodell. In irgendeiner Planungsbesprechung zwischen Architekten und TGA-Fachplanern kommen erste Unstimmigkeiten auf: Wieso ist die Anlage größer als der Technikraum? Wieso ist der Schacht zu klein? Warum passen nicht alle Trassen in die Abhangdecke? Von wo soll die Brandschutzklappe bedient werden?

Spätestens jetzt spürt das Planerteam erste Untiefen im Planungsfluss: Steine liegen im Wasser, Strömungen zerren in verschiedene Richtungen, das Wasser fließt gefühlt immer schneller. Mit großem Getöse kündigt er sich schließlich an: der tiefe Sturz im Schlauchboot. Helm auf, Weste an – hoffentlich sitzen Sie hinten im Boot!
Die zweite Konsequenz: Wir fallen aus dem Projektkarussell
Sowohl HOAI als auch VDI 6026 berücksichtigen nicht die Realität des TGA-Fachplaners. Durch das notwendige Expertenwissen zu den einzelnen Anlagengruppen sind alle Fach- und Systemplaner in mehreren Projekten gleichzeitig fest eingebunden. Auf dem Weg von der Haustür über die Baustelle ins Büro fällt man schnell mal aus dem Projektkarussell. Ganz zu schweigen von Urlaub, Krankheit oder dem endgültigen Burnout des überforderten Kollegen, der als Experte in allen Projekten dringend gebraucht wird.

Werkzeuge des Agilen Projektmanagements für komplexe TGA-Projekte
Das Problem hat die Softwareentwicklung schon in den 90ern erkannt: Der Kunde weiß nicht was er will, bevor ihm jemand zeigt, was er haben kann. Der Programmierer weiß nicht was er tun soll, wenn er nicht immer wieder Feedback zu seiner Arbeit bekommt.
Arbeit muss also sichtbar gemacht werden, um Bauherren und TGA-Fachplaner abzuholen. Sichtbare Zwischenergebnisse (Inkremente) sind der Schlüssel zur Entscheidungsfindung und zum zufriedenstellenden Ergebnis. Die meisten TGA-Fachplaner wenden diese Grundidee bereits in der Vorplanung an – allerdings meist ohne bewusste, klare Struktur.

Feste Zyklen statt fester Termine
Diese Struktur besteht im Agilen Projektmanagement insbesondere aus festen Zyklen (Sprints), z.B. zwei Wochen. Innerhalb dieser Zyklen werden vom TGA-Fachplaner sichtbare Zwischenergebnisse (Vorabzüge des Gebäudemodells, der Kostenschätzung, des Erläuterungsberichtes) erarbeitet, vorgestellt und vom Bauherren bewertet. Der TGA-Fachplaner entscheidet vorab die Reihenfolge der Themen projektspezifisch.
Erst im letzten Zyklus wird das Ergebnis des Vorentwurfes vollständig vorgestellt. Der Bauherr wurde auf diesem Weg mitgenommen und hat bereits diverse Zwischenergebnisse gesehen und bewertet. Eine sichere Entscheidungsfindung wird durch die wiederholte Präsentation von Vorabzügen vereinfacht.
BIM braucht Agile Werkzeuge
Die Digitalisierung der Baubranche (BIM – Building Information Modeling) befördert den Einsatz eines Agilen Projektmanagements. Wer als TGA-Fachplaner schonmal in einem Data Drop ohne koordiniertes TGA-Modell saß wünscht sich ganz schnell eine Verbesserung seines Projektmanagements. Sichtbare Zwischenergebnisse sind einer der großen Vorteile von BIM. Aber gerade die kurzen Entwicklungszyklen des TGA-Modelles erfordern zielgerichtetes, abgestimmtes und effizientes Arbeiten.
Agilen Werkzeugkasten zur Verfügung stellen
Wer als TGA-Fachplaner die beiden agilen Werkzeuge Scrum und Kanban ausprobiert hat, bekommt meist Lust auf mehr. Die Visualisierung von Arbeit führt zu Veränderungsprozessen in Unternehmen. Insbesondere bei Ingenieurbüros mit flachen Hierarchien und kurzen Entscheidungswegen können bekannte agile Werkzeuge wie das Daily-Standup oder Retrospektiven Wunder hinsichtlich der Auslastung und Zufriedenheit aller Mitarbeiter bewirken. Werden alle Kollegen als gleichberechtigte Experten verstanden, die gemeinsam gute Entscheidungen treffen, können Soziokratische Methoden eingeführt werden.

Bessere Kommunikation und Visualisierung
Mit den Werkzeugen „Kreis“ und „Runde“ wird die Kommunikation über die visualisierte Arbeit auf ein neues Nivea gehoben. Erkannte Schwächen der Zusammenarbeit werden als Treiber formuliert wiederum in einem Kanban visualisiert und bearbeitet. Am Ende steht ein Ingenieurbüro der TGA, das sich durch kontinuierliche Verbesserung durch Agiles Projektmanagement von anderen Fachplanern abhebt.
Dokumente zum Download
Podcast Bargespräche: Projektmanagement in der TGA
7. Bargespräch: Agiles Projektmanagement in der TGA (Einführung)
21. Bargespräch: Agiles vs. Klassisches Projektmanagement in der TGA
31. Bargespräch: VDI Inhouse Seminar Agiles Projektmanagement in der TGA
2 Antworten zu “Agile TGA-Fachplanung: Warum eigentlich?”
[…] Leistungsphasen 1-7, die meist in ein anstrengendes Multiprojektmanagement führt. Hier bieten sich Methoden des agilen Projektmanagements […]
[…] ein Schaubild in der sonst sehr textlastigen VDI-Richtlinie. Es zeigt uns den Planungsablauf als ideales Wasserfall-Modell, auf dem die HOAI und die VDI 6026 aufsetzt. Agiles Projektmanagement steckt nicht dahinter, muss […]